Es ist deutlich zu hören, hier sind Kinder aktiv und freudig bei der Sache. Der Beobachter fühlt sich mehr an einen Abenteuerspielplatz erinnert, als an eine Schulturnhalle. Aus den Seilen und einer großen Matte wurde eine Riesenschaukel gebaut, aus Barren, Bänken, Reck und Kasten eine Kletterlandschaft mit unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden.
Es bedarf keiner besonderen Aufforderung oder Motivationstechnik, die Kinder hier zum Mitmachen zu bewegen. Sie klettern, balancieren, schaukeln, springen. Sie entwickeln den Mut sich auszuprobieren, und sie erleben vor allem eines: ihre Stärke. Insbesondere ihre Stärke, etwas herausfinden zu können über ihr eigenes Verhalten in Bezug auf ihre soziale und dingliche Umgebung.
Sie fassen wieder Vertrauen zu ihrer ganz ursprünglichen Lernform, zum Experiment. Es gibt hier nämlich keine Leistungserwartung und keine Leistungsnorm. Daher wird auch der Misserfolg nicht unter den Teppich gekehrt, sondern offen angegangen.
Für die Kinder ist es Spiel. Das ist auch gut so, denn das Spiel, insbesondere das Bewegungsspiel, ist die kindgemäße Art, etwas über sich und seine Umwelt zu erfahren. Im Bewegungsspiel erlebt das Kind seinen Körper und hat alle Freiheit, verschiedenste Lösungswege zu erproben. So kann eine einfache Bewegung, wie beispielsweise das Anheben der Beine aus der Rückenlage ein Spiel mit unzähligen Variationen sein.
Das kann man besonders gut beim Baby beobachten. Ein Baby, das sich gut entwickelt, kann sich stundenlang mit dem eigenen Körper beschäftigen, und es entdeckt dabei wichtige Zusammenhänge. Dabei lernt es nicht allein, die Bewegungen seines Körpers immer besser aufeinander abzustimmen, es erwirbt auch eine gute Beobachtungs-, Konzentrations- und Lernfähigkeit. So findet es seinen Weg der Aufrichtung entgegen der Schwerkraft und entwickelt sich zu einem frei handelnden Menschen.
Jede Erinnerung, jeder Gedanke ist verbunden mit Gefühlen, und alle Gefühle sind gebunden an körperliche Empfindungen. Der Mensch ist ein Fühl-Denkwesen. Das ist es ja gerade, was uns von einem Computer unterscheidet. Jedes Erlebnis, jede »Information«, jeder »Reiz« werden, noch bevor sie unser Bewusstsein erlangen, im Gehirn bewertet, nützt es, bestätigt es mich? Ist das Empfundene einzuordnen, finde ich Orientierung? Lohnt es sich also, mich mit dieser Angelegenheit zu befassen, die Erfahrung zu speichern? Oder ist die Situation unüberschaubar, bedrohlich? Muß ich mich wehren, muß ich mir diese Erfahrung vom Leib halten?
In diesem Fall wird körperliche Abwehr, innere und äußere Abkehr - Angst die Folge sein. Meine Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten werden auf Flucht und Abwehr reduziert und das kreative Denken wird blockiert.
Ausschließlich das mit positiven Gefühlen Erfahrene kann im Gehirn integriert werden und steht im Bedarfsfall schnell zur Verfügung. Deshalb achten wir in der Psychomotorik so sehr darauf, daß die Kinder sich in einer Situation aufgehoben und sicher fühlen, daß sie sich öffnen und Spaß haben am Bewegen, Wahrnehmen und Lernen.
Aber nicht jedes Bewegen führt zu sinnvoller Wahrnehmung und sinnvollem Lernen. Die Kinder, die zu uns kommen, haben ja gerade damit ihre Schwierigkeiten. Es fällt ihnen schwer, mit der Fülle der Umweltreize zurechtzukommen. Sie sind oft überfordert und bringen dies in ihrem Verhalten zum Ausdruck. Hier setzt die therapeutische Hilfe an:
Wir schaffen in der Psychomotorik Erfahrungsfelder, die für die Kinder überschaubar bleiben und die Ihnen wesentliche, insbesondere sensomotorische Erfahrungen vermitteln. Die Therapie ist buchstäblich sinnvoll. Alle Sinne der Kinder werden angesprochen, aber der Schwerpunkt liegt auf der Anregung des Gleichgewichtssinnes und des Körpergefühls in seinem taktilen und tiefensensorischen Aspekt.
Die Psychomotorik, wie sie hier beschrieben wird, hat sich weiterentwickelt von der »psychomotorischen Übungsbehandlung« zu einem neurophysiologischen Therapieverfahren. Die verschiedenen Bewegungs- und Erfahrungssituationen sollen im Wesentlichen die sensomotorische Wahrnehmung und vor allen Dingen die Wahrnehmungsintegration als komplexe Hirnfunktion ansprechen und damit Hirnreifung stimulieren.
So erscheint Psychomotorik heute oft als eine Sensorische Integrationsbehandlung in der Gruppe.
Aber wie immer, so ist auch hier das Maß entscheidend. Es gibt keine Rezepte für die richtige vestibulär-taktil-kinästetischen Stimulation. Psychomotorische Arbeit ist situative Arbeit, die sich an dem Verhalten der Kinder orientiert. Sind die Kinder in der Lage, die ihnen angebotene Stimulation zu integrieren und die Situation aktiv zu gestalten, dann stimmt die Therapie. Die Kinder können so ihre Raum- und Zeitorientierung finden. Sie gewinnen Handlungskompetenz, sich mit ihrer Umwelt auseinander zu setzen, um daran zu reifen.
Viele Kinder erscheinen in solchen Situationen fast unauffällig und erleben dann Momente ungebrochenen Selbstbewußtseins und großen Glücks.
Mit kaum zu überbietender Deutlichkeit hat der kleine Bernd dies auf den Punkt gebracht:
nach vielen Versuchen und der erfolgreichen Überwindung seiner Angst war es ihm gelungen, eine Behandlungsbank zu erklimmen. Da stand er nun und schaute mit etwas zittrigen Knien auf den bereitliegenden Sitzsack hinunter.
Wieder hinunterklettern? Kann man ja mal probieren. Oder lieber doch springen? Es ist ja doch ganz schön hoch. Nach einigem Hin und Her fasste er sich ein Herz und sprang, rappelte sich hoch und sagte voller Stolz:
»Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für Bernd!«